Jede Menge Empfindlichkeiten, oder: Wie unterscheiden sich analytische, diagnostische und funktionelle Sensitivität?

Geschrieben von Dr. Janet Thode Veröffentlicht in Methodenvalidierung

Heute geht es mal wieder um die Klärung von Begriffen. So sind mir doch kürzlich die unterschiedlichsten Sensitivitäten über den Weg gelaufen, die wir heute mal in ihrem jeweiligen Kontext erläutern wollen. Wo kommen sie her und warum stiften sie Verwirrung?

 

Calibration sensitivity und analytische Sensitivität

Im Hinblick auf Analysemethoden, die z.B. zur Prüfung von Arzneimitteln eingesetzt werden, also z.B. aus dem Blickwinkel eines Chemikers, beschreibt die Sensitivität (Empfindlichkeit) einer quantitativen analytischen Methode, wie stark sich das Messsignal in Abhängigkeit von der Änderung der Konzentration des zu untersuchenden Analyten ändert. Damit spiegelt sie sich in der Steigung (m) der Kalibrierfunktion wider. Je größer die Steigung ist, desto empfindlicher ist die Analysemethode, da auch kleine Unterschiede gut voneinander abgegrenzt werden können. Dies wird im Englischen auch als „calibration sensitivity“ bezeichnet. Da die „calibration sensitivity“ jedoch nicht anzeigt, welche Konzentrationsunterschiede detektiert werden können, trägt der Ausdruck analytische Sensitivität dem Rechnung. Unter analytischer Sensitivität versteht man das Verhältnis der Steigung der Kalibrierfunktion zur Standardabweichung (SD) des Messsignals bei einer bestimmten Konzentration [1]. In anderen Worten beschreibt dies die Fähigkeit einer analytischen Methode, zwischen konzentrationsabhängigen Messignalen unterscheiden zu können.

Damit hat die analytische Sensitivität nichts mit der Nachweis- (LOD) oder Bestimmungsgrenze (LOQ) zu tun, da sich die LOD auch unterhalb des linearen Bereichs befinden kann (womit die Steigung der Kalibriergerade dann irrelevant ist) und auch der für die LOQ erforderliche Aspekt der statistischen Sicherheit (à entsprechende Präzision und Richtigkeit) nicht gegeben ist.

Anwendung findet die analytische Sensitivität beispielsweise bei pH-Bestimmungen, photometrischen Bestimmungen mittels Lambert-Beer-Gesetz und bei Analysen zur Bestimmung der Wasserqualität gemäß ISO 11732:2005 [2].

 

Diagnostische Sensitivität

Und dann gibt es noch den medizinisch / diagnostischen Blickwinkel mit der diagnostischen Sensitivität. Diese ist ein Gütekriterium diagnostischer Tests und wird vom Robert-Koch Institut (RKI) wie folgt definiert „Diagnostische Sensitivität ist das Vermögen der Untersuchungsmethode, möglichst alle Erkrankten zu erfassen.“ [3]. Vereinfacht ausgedrückt ist das also der Anteil richtig positiver Ergebnisse, die von Personen stammen, die auch wirklich erkrankt sind. Damit geht es hier nicht um analytische Labormethoden und deren Fähigkeit zum Nachweis besonders kleiner Mengen, sondern um eine statistische Aussage, die sich auf richtig oder falsch positive Ergebnisse bezieht. Sprich wie gut kann dieser Test tatsächlich die Erkrankung diagnostizieren, kann man den Ergebnissen vertrauen? Bedeutet ein positives Ergebnis, dass ich wirklich krank bin? Wenn die diagnostische Sensitivität z.B. nur 50% beträgt, bedeutet dies, dass die Hälfte tatsächlich vorhandener Erkrankungen (wie z.B. Darmkrebs) übersehen wird und damit jeder zweite glücklich nach Hause geschickt wird, obwohl er leider erkrankt ist…

Demgegenüber beschreibt laut RKI „die analytische Sensitivität die Nachweisstärke der Labormethode“, was ja schon etwas missverständlich aufgefasst werden kann.

Und wenn man jetzt denkt, dass analytische und diagnostische Sensitivität nichts miteinander zu tun haben, so gibt doch Fälle, wo das anders ist, wie beispielsweise für Screening-Tests, die bei der Herstellung von Blut- und Stammzellzubereitungen zur Spenderuntersuchung angewendet werden und wofür Vorgaben vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) gemacht werden. Dafür muss sichergestellt sein, dass der Spender frei von bestimmten Krankheiten ist und der Test daher a) keine falsch negativen Ergebnisse liefert (à diagnostische Sensitivität) und b) empfindlich genug ist, auch schon die ersten Anzeichen einer Krankheit, also die ersten Krankheitsmarker in geringster Konzentration nachweisen zu können (à analytische Sensitivität). Gemäß obiger Definition für die analytische Sensitivität würde ich in diesem Zusammenhang hier allerdings eher von der LOD sprechen…

 

Funktionelle Sensitivität, LOB und der Standpunkt des CLSI

Und schließlich gibt es auch noch die funktionelle Sensitivität. Und was ist das jetzt?

Dazu müssen wir etwas weiter ausholen. In der Vergangenheit war der Begriff der analytischen Sensitivität für diagnostische Analysemethoden definiert als "die niedrigste Konzentration, die vom Hintergrundrauschen unterschieden werden kann", was an die LOD erinnert (und auch die bestehenden Unklarheiten und die oftmals immer noch falsche synonyme Verwendung erklärt). Dafür wurde z.B. bei ELISAs der Blank mehrfach vermessen, davon die SD bestimmt und der Blankwert + 2x SD ergab dann die analytische Sensitivität (bzw. den LOB, siehe unten). Diese wurde dann auch vom Hersteller des diagnostischen Tests auf der Packungsbeilage angegeben. Gut und schön, da diese Angabe aber für die klinische Anwendung nicht wirklich nützlich war, wurde Anfang der Neunziger das Konzept der funktionellen Sensitivität von einer Gruppe Forschern, die sich mit Thyrotropin (TSH)-Assays beschäftigt haben, ins Leben gerufen. Demnach ist die funktionelle Sensitivität “the lowest concentration at which an assay can report clinically useful results". Und mit den “useful results” kam die Präzision ins Spiel, da dafür ein maximaler Variationskoeffizient (coeffient of variation, CV oder relative Standardabweichung) von 20% festgelegt wurde [4]. Dieses Konzept wurde schließlich nicht nur auf TSH Assays angewendet, sondern auch auf andere (diagnostische) Tests übertragen und so findet sich die Definition der funktionellen Sensitivität als „kleinste Konzentration, die mit einem CV von weniger oder gleich 20% gemessen werden kann“ auch noch in aktuellen Büchern zur Labormedizin [5]. Praktisch kann die funktionelle Sensitivität bestimmt werden, indem das Untersuchungsmaterial (z.B. Patientenseren) in verschiedenen Verdünnungen (der interessierende Analyt liegt also in verschiedenen Konzentrationen vor) jeweils mehrfach analysiert wird, von jeder Verdünnungsstufe der CV ermittelt und dann geschaut wird, bei welcher Konzentration der CV noch kleiner / gleich 20% ist. Von der grundsätzlichen Idee her geht das ja schon in die Richtung des LOQ, weswegen die funktionelle Sensitivität auch oft fälschlicherweise mit dem LOQ gleichgesetzt wurde bzw. leider immer noch wird.

Um das Ganze noch komplizierter zu machen, findet sich neben der analytischen und funktionellen Sensitivität in manchen Packungsbeilagen von diagnostischen Assays auch noch ein LOB… Hinter dem LOB verbirgt „Limit of Blank“. Dieser wurde 2004 im Zuge der vom Clinical Laboratory and Standards Institute (CLSI) veröffentlichen EP17-A Guideline eingeführt und ist definiert als „die höchste Konzentration, die man erhält, wenn man Probenreplikate vermisst, die keinen Analyten erhalten“. Diese Definition entspricht dem in der ISO 11843-1 definierten „kritischen Wert“, aber das CLSI bevorzugt den Begriff LOB. Des Weiteren wird sich in der zweiten Version EP17-A2 von 2012 außerdem von den Begriffen analytischer und funktioneller Sensitivität distanziert, da diese oft fälschlicherweise für LOD und LOQ verwendet wurden / werden [6]. Wie der LOB und die LOD miteinander in Bezug stehen, erfahren Sie hier.

 

Zusammengefasst ist

Calibration sensitivity = Steigung der Kalibrierfunktion

Analytische Sensitivität = Steigung / StandardabweichungMesssignal; ≠ LOD !!!

Diagnostische Sensitivität = richtig positive Testergebnisse / (richtig positive Testergebnisse + falsch negative Testergebnisse); statistische Aussage, hat nichts mit einer Analysenmethode zu tun

Funktionelle Sensitivität = nachweisbare minimale Analytkonzentration mit einem CV ≤ 20%; ≠ LOQ !!!

LOB = MittelwertBlank + 1.65 x StandardabweichungBlank

 

Referenzen

[1] Skoog D.A., West D.W., Holler F.J., Crouch S.R. (9th ed. 2014) Fundamentals of Analytical Chemistry, Brooks / Cole, ISBN 978-0-495-55828-6

[2] B. Magnusson and U. Ornemark (eds.) Eurachem Guide: The Fitness for Purpose of Analytical Methods – A Laboratory Guide to Method Validation and Related Topics (2nd ed. 2014)

[3] Kommission „Methoden und Qualitätssicherung in der Umweltmedizin“ (2008) Leitlinien Diagnostische Validität, Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch -Gesundheitsschutz, 51:1353–1356

[4] Spencer CA. (1989) Thyroid profiling for the 1990's: free T4 estimate or sensitive TSH measurement, J Clin Immunoassay, 12:82-9.

[5] Müller M. (2020) Labormedizin 2020: in Frage und Antwort, irm-books, ISBN 978-3-751917100

[6] CLSI (2012) Evaluation of Detection Capability for Clinical Laboratory Measurement Procedures; Approved Guideline – Second Edition. CLSI document EP17-A2. Wayne, PA: Clinical and Laboratory Standards Institute